Annemarie Mol: Die Logik der Pflege
Annemarie Mol ist eine niederländische Medizinssoziologin, bekannt für ihre Arbeiten zu Gesundheit, Pflegepraxis und der Beziehung zwischen Mensch und Technik. Sie beschäftigt sich mit der Frage, wie Pflege im Alltag gelebt wird, und hinterfragt normative Vorstellungen von Patient:innenautonomie und Effizienz im Gesundheitswesen.
Mit The Logic of Care (2008) und gemeinsam mit Ingunn Moser und Jeannette Pols herausgegebenem Care in Practice (2010) rückt Mol ein bislang wenig beachtetes Phänomen in den Mittelpunkt: Care, die alltägliche Sorge für andere Menschen. In einer Zeit, in der Gesundheitspolitik zunehmend ökonomisch und auf individuelle Wahlfreiheit ausgerichtet ist, zeigt Mol Care als lokal verankertes, relationales und materielles Tun. Sie betont, dass Pflege nicht als abstrakte Regel oder isolierte Handlung verstanden werden kann, sondern sich in konkreten Praktiken entfaltet, die Menschen, Technologien, Körper und Materialien miteinander verbinden.
In The Logic of Care untersucht Mol exemplarisch die Behandlung von Diabetes, während Care in Practice empirische Fallstudien aus Pflege, Landwirtschaft und Betreuung älterer oder behinderter Menschen zusammenführt. Beide Werke machen deutlich: Care ist kollektiv, situativ und wandelbar. Patienten sind nicht passiv, sondern aktiv in die Praxis eingebunden; Technologien sind nicht bloß Instrumente, sondern Elemente, die Pflegeprozesse formen und verändern.
Mol kritisiert die Dominanz von Effizienz und Patientenautonomie als Maßstäbe für „gute Pflege“. Care ist vielmehr ein kontinuierliches „Tinkering“ in einem Spannungsfeld widersprüchlicher Bedürfnisse, Werte und Anforderungen. Gute Pflege ist kein Endprodukt, sondern ein dynamischer Prozess des Aushandelns und ständigen Anpassens. Probleme liegen nicht isoliert im Körper einer einzelnen Person, sondern im komplexen Zusammenspiel von Menschen, Technologien und Materialien.
Ihr Ansatz verschiebt unser Verständnis von Verantwortung und Handlungsspielraum: Pflege und Sorge lassen sich nicht durch standardisierte Verfahren erzwingen, sondern nur durch die engagierte Auseinandersetzung mit den konkreten Praktiken. Mol liefert damit nicht nur theoretische Einsichten, sondern auch einen normativen Impuls: Pflege sollte in ihrer Komplexität wahrgenommen, respektiert und gestärkt werden, statt sie simplifizierenden Effizienzlogiken oder technologischer Rationalisierung zu unterwerfen. Pflege ist relational, dynamisch und vielschichtig – und damit ein essenzieller Bestandteil menschlicher Versorgung.