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Dieser Beitrag setzt sich für die Wertschätzung von Oberflächen, für sinnlich-erfahrbares und leibliches Erleben ein. Er wehrt sich gegen eine Haltung, die das Soziale als zweckrationales Normsystem versteht und sinnliche Wahrnehmung auf Informationsverarbeitung reduziert.
Im Jahr 2000 wurde das Phänomen eines neuen nachhaltigen Konsums erstmals in Büchern wie «The Cultural Creative: How 50 Million Are Changing The World» (Ray 2001) beschrieben. Unter dem Akronym LOHAS (Lifestyles of Health and Sustainability) nahmen Soziolog*innen und Zukunftsforscher*innen eine neue Gruppe unter die Lupe, die ihren Lebensstil nach den Prinzipien der Nachhaltigkeit ausrichtete. Diese neuentdeckte Käuferschaft unterschied sich von den alten Ökos der 70er und 80er Jahre weniger durch eine neuartige Gesinnung, als vielmehr durch einen neuen ästhetisierten Lifestyle. «Wir sind die neuen Ökos», heisst es 2007 im LOHAS-Manifest. «Unser Konsum ist konsequent ökologisch und fair, ohne auf Modernität zu verzichten. Im Gegensatz zu den ‹alten Ökos› sind wir technologiefreundlich und genussorientiert. Wir […] genießen nachhaltig. Wir wissen über die Folgen unseres Konsums und versuchen, diese möglichst gering zu halten. Wir interessieren uns für Gesundheit, Spiritualität, Nachhaltigkeit und Ökologie. Gehen zum Yoga oder Tai-Chi, trinken Grüntee oder Bionade. Häufig sind wir Vegetarier» (karmakonsum.de 2007). Diese Wertevorstellung sind grundsätzlich nicht weit von den «Alt-Ökos» entfernt, sie haben sich «nur» den neuen Technologien zugewandt und sich unserem genussorientierten Lebensstil angepasst.
Hören wir 15 Jahre später diese Selbstbeschreibung, kommen wir nicht umhin umgehend an ästhetische Manifestationen dieser LOHAS zu denken. Wir sehen Green-Smoothies, Braunpappe, selbstgestrickt-anmutende Wollpullover und Fotos von einem idyllischen Zusammenleben im Einklang mit der Natur. Begriffe wie Achtsamkeit ästhetisieren sich in Kreidetafeln mit handgeschriebenen Qualitätssiegeln wie «homemade» oder «designed by nature». Wir imaginieren Slogans wie «less is more», die auf den mobilen Litfasssäulen dieser Zeit – den 100%-Bio-Jutebeuteln – Platz fanden und «Ökomode» die sich unverändert fair als Slow oder Green Fashion im neuen Gewand zeigt. Diese Nutzung bestehender und vergangener ästhetischen Kodierungen ermöglichte, dass wir uns auf «alte Werte» leibhaftig «neu» besinnen. Abstrakte Begriffe der Nachhaltigkeit werden durch asketisch wirkenden naturverbundenen Produkt-Auren wieder begehrenswert. Die zeitgemässe Ästhetisierung des Öko-Looks, die Implementierung eines «Sustainable Lifestyles» ermöglicht (nachhaltigkeits-)ungebildeten Konsumbürger*innen sich nach und nach mit Fahrradfahren und Thermoskannen und damit auch mit einer neuen umweltpolitischen und konsumkritischen Haltung zu identifizieren. Boltanski und Chiapello (2003) verstehen die durch ästhetische Praxen hervorgebracht kapitalistische Aneignung, nicht nur als Green-Washing-Instrument, sondern sie trauen dem neuen moralischen Konsum eine Erneuerung des kapitalistischen Geistes hin zu mehr Verantwortung zu (Teigeler 2015). Und das scheint angesichts der wachsenden Zahl von Grün-Wähler*innen und den engagierten Klima-Demos von Jugendlichen eingetreten zu sein. Das Bewusstsein hat sich verändert und eine kleine Gruppe von konsumfreudigen Müslisessern hat es mit Hilfe von Ästhetisierungsprozessen geschafft, eine breitere Masse für umweltpolitische Dringlichkeiten zu sensibilisieren (Zukunftsinstitut 2007), indem eben nicht nur rationale sondern auch sinnlich wahrnehmbare Zugänge geschaffen wurden, die nun auf die rational gesteuerte ökonomische und politische Agenda rutschen.
Daher frage ich konkret: Gibt es in unseren Reihen jemanden, der glaubt, dass wir nur durch nicht-ästhetisierte Informationen, durch pure Sachverhalte und rein kognitive Zugänge heute in dieser Vehemenz über Klimawandel und nachhaltige Lebensführung sprechen würden? Meinen wir wirklich, abstrakte Definitionen wie «Nachhaltigkeit ist ein Handlungsprinzip zur Ressourcen-Nutzung, bei dem eine dauerhafte Bedürfnisbefriedigung durch die Bewahrung der natürlichen Regenerationsfähigkeit der beteiligten Systeme (vor allem von Lebewesen und Ökosystemen) gewährleistet werden soll» (Wikipedia 2019) hätten uns zu reflektierteren Konsumbürger*innen gemacht? Dinge sind samt ihrer ästhetischen Erscheinung Ergänzungen wie auch Alternativen zur sprachlichen Äußerung; wie diese bestimmen sie über Nähe wie auch Distanz. Diese erzeugte Nähe oder Distanz hat nicht nur Auswirkungen auf unsere Sozialität, sondern ermöglicht oder verunmöglicht uns auch neue Zugänge zu grossen gesellschaftspolitischen Fragestellungen.
Daher plädiert dieser Text dafür, auch die Semiotik der Dinge zu betrachten, die bisher keinen Ästhetisierungsprozess erfahren haben, denn durch sie können wir ermitteln, welche Zielvorstellungen und moralisch-ethischen Weltbilder eine leistungsorientierte (post-)kapitalistische Gesellschaft verfolgt. Das Hässliche, das Nicht-Ästhetisch-Erscheinende, ist somit genauso erkenntnisergiebig wie das Schöne. Es gibt Einblicke in kollektive Wertehaltungen. Aber was passiert, wenn das Nicht-Ästhetische oder Entästhetisierte im Verborgenen bleibt, da es nicht geeignet erscheint, «antiästhetisch» produktiv gemacht zu werden? Dann, so meine These, kann das Hässliche verhindern, dass wir uns mit grossen Themen, wie etwa Krankheit, Alter und Sterben, lebensweltlich auseinandersetzen, weil es Identifikation und Nähe verunmöglicht. Dies kann zur Folge haben, dass die Bearbeitung von relevanten gesellschaftlichen Zukunftsfragestellungen ausbleibt oder selbige nur sehr einseitig und einsilbig beantwortet werden können.
Denn wenn wir einen Blick auf Krankheit und Sterben werfen, tritt oben Skizziertes genau ein. Daher frage ich, welche Bilder uns bei Begriffen wie Pflegebedürftigkeit und Lebensende in den Sinn kommen. Schrumpelig betende oder schwache mit Pflaster verklebte Hände, Latexhandschuhe, Holzfurnierimitatpflegebetten, gemusterte Pflegehemden, transparente Gummischläuche und ein Farbmeer aus Chrom, Stahlgrau, Desinfektionsmittelblau, Kittelweiss und OP-Grün mögen vor unserem inneren Auge auftauchen. Objekte wie diese sind samt ihrer Oberflächen und Symboliken einerseits gekoppelt an ein habitualisiertes Körperwissen von Krankheit, Leid und der Sorge von Verlust von Autonomie, anderseits stehen sie aber auch für Anonymität und Standardisierungsprozess der ökonomisierten Medizin, die uns zunehmend zu einem entindividualisierten Körper macht, der in Gesundheitsfabriken effizient bearbeitet wird. Man könnte auch böse sagen, diese Ästhetiken sind in einem perversen Sinne adäquat, weil sie Krankheit und Sterblichsein bzw. «Nicht-Leistungsfähig-Sein» entsprechend hässlich «verkaufen». Betrachtet wir die tristen Bilder, die Pflegebedürftigkeit symbolisieren, so liegt die Vermutung nahe, dass gesellschaftliche Verdrängung und Tabuisierung genau diesen Bilderwelten mitgeschuldet sind. Diese gesellschaftliche wie auch individuelle Sprachlosigkeit untersuche ich. Eine Frage, die mich treibt: Welchen Einfluss hat eine fehlende oder entästhetisierte materielle Kultur auf unser Verhältnis zu Krankheit und Tod? Die andere Frage, die darauf folgt, ist spekulativ: Würden wir die Kraft des Ästhetischen anerkennen und uns diese, ähnlich wie es die LOHAS vor einigen Jahren taten, zu Nutze machen, würde «Sterblich- und Kranksein» wie «Ökosein» möglicherweise wieder salonfähiger werden? Eine kleine internationale Gruppe von «Death Positive-Denker*innen» stösst aktuell diese Prozesse an. Ich selbst gehe davon aus, dass dies nicht ohne ein «Redesign von Sterbewelten» möglich sein wird. Denn, ob wir wollen oder nicht, es ist im hohen Masse die Ästhetik der Dinge, die als «sozialer Klebemittel» fungiert und unsere Welt zusammenhält.
Literatur:
Boltanski, L., Chiapello, E. (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. UVK Verlagsgesellschaft. Konstanz
Das KarmaKonsum LOHAS-Manifest (2007): Wir leben LOHAS – die Lifestyles of Health and Sustainability. Abgerufen am 15. Juli 2014, von https://www.karmakonsum.de/lohas_-_lifestyle-of-health-and-sustainability/
Teigeler, M. (2015): Greemarketing. In: Mair, J., Stetter, B. (Hrsg.): Moralphobia, Ein Zeitgeistglossar von Achtsamkeit bis Zigarette. Hamburg: Gudberg Verlag.
Zukunftsinstitut GmbH (2007): Zielgruppe LOHAS. Kelkheim
Footnote: Dieser Textausschnitt stammt in Teilen und in leicht veränderter Form aus dem Buchbeitrag «Plädoyer für eine ästhetische Zukunft des Designs» von Bitten Stetter,“ erschienen in der Buchpublikation «Not at Your Service: Manifestos for Design» herausgeben von Hansuli Matter, Björn Franke und veröffentlicht Zürich 2020.