Jedes Kleidungsstück basiert auf (Körper-)vorstellungen, die durch gesellschaftliche Moden, moralische Werteperspektiven wie auch medizinische und gesundheitspolitische Überlegungen geprägt sind. Menschen werden durch Kleider geformt.
Mit Kleidung können wir spielen und selbstbestimmt wählen, ob wir Botschaften über Körper, Geist und Lebensstil zeigen oder verdecken möchten. Kleidung ist somit nie nicht-designt und kann auch «nicht nicht-kommunizieren». Wird ein Mensch zu bestimmter Kleidung gezwungen, etwa im Dienst (Militär, Pflege) oder in fragilen Umständen wie bei Krankheit, kann dies verändernd auf das Selbstverständnis einwirken. Dies kann durchaus erwünscht sein, aber auch zu Konflikten führen, die wir im Extremfall als «vestimentäre Übergriffe» wahrnehmen können. In Settings, wo das Tragen spezifischer Kleidung nicht autonom und selbstbestimmt, sondern der Rationalität des Kontextes geschuldet ist, wie im Falle eines Krankenhaus-Aufenthalts, können die psychologischen Kosten hoch sein, da die wechselseitigen Relationen (Kleid, Mensch, Gruppe, Kontext) zu Entfremdung führen können. Das Tragen von Kleidung bleibt daher nie folgenlos. Das Pflegehemd bildet hier keine Ausnahme. Es sendet wie alle körpernahen Textilien Botschaften, auch wenn es vor allem unter gesundheitspolitischen und funktionsorientierten Vorstellungen kreiert, produziert und vermarktet wird. Auf der Website von pflegeoverall24.de (20219 wird ein Modell beispielsweise wie folgt beschrieben: «Durch das offene Rückenteil mit praktischen Bindeverschlüssen im Nacken- und Hüftbereich wird Pflegezeit eingespart und Arbeitsabläufe in der Pflege enorm vereinfacht.» Klar im Vordergrund stehen Vorteile wie «schnelles An- und Ausziehen ohne Aufsetzen des Patienten» (ebd.). Der funktionale Anspruch wendet sich dabei, anders als bei anderen Kleidern, nicht an die Träger*in des Kleidungsstückes, sondern an eine andere Nutzergruppe: die Pflegenden oder an dritte Care-Personen. Dieser veränderte Fokus wird in der Uniformität des Designs und in der Funktionsgestaltung des Pflegehemdes sichtbar, so dass wir das vestimentäre Objekt auch als Uniform des Kranken ansehen können, welches nicht zwingend „nur“ der Träger:in dient.
Während dienstliche Uniformen wie die weissen Überkleider der Ärzt:innen Identifikationsangebote und Zugehörigkeit offerieren, bietet die Uniform des Kranken dies nur bedingt. Auch sozialen Status kann ein Pflegehemd nicht vermitteln. Im Kontext von Palliative Care, wo Heilung nicht im Zentrum steht, scheint dies besonders relevant. Anders als bei akuten Krankheiten und kurzfristigen medizinischen Interventionen, zwingt die Irreversibilität der Krankheit und die daraus resultierende Pflegebedürftigkeit Menschen dazu, ihre brüchigen Körperidentitäten neu zu gestalten. Das Re-Design des vulnerablen Selbst hat wie der Begriff Palliative Care materiale Dimensionen, denn als vestimentäre Metapher verweist das «Pallium» (lat.) auf einen mantelähnlichen Umhang, der sich im Sinne des Care- Begriffs fürsorglich um schwerkranke Körper und brüchige Identitäten legt (oder legen soll). Ob die globale Krankenuniform als schützendes oder verletzendes care apparel verstanden werden kann, ist dabei eine Frage, die sich sicherlich nicht pauschal und allgemeingültig beantworten lässt. Schliesslich leben wir in einer hyperindividuellen Welt, in dem jeder Mensch nicht nur individuell sein Leben lebt, sondern ebenso sehr individuell erkrankt und am Ende seiner Tage das Leben sehr individuell verlässt. Um so wichtiger erscheint es sich im Wandel der Zeit und des Gesundheitssystems über persönliche und institutionelle Care-Textilien Gedanken zu machen, da hautsinnliche erfahrbare Textilien nicht nur unsere Körper umhüllen, berühren, camouflieren, und schützen, sondern auch Aussagen über unser individuelles , wie auch gesellschaftliches Wertesystem treffen. Care-Textilien treten also nicht nur in den Austausch mit uns selbst, sondern auch in den Austausch mit anderen. Damit evozieren auch diese spezifischen Kleidungsstücke bestimmte Handlungen und Nicht-Handlungen und geben, wie jede andere Mode auch, wichtige Informationen non-verbal Preis. Dies können wir nicht vermeiden, ganz gleich in welcher Lebenssituation wir uns befinden, ganzgleich ob wir unsere Identitäten durch Alltagskleidung, Berufsbekleidung Fest- oder Krankenkleidung konstruieren, ganz gleich ob wir stehen, gehen, tanzen oder in Spitalbetten liegen.
Footnote: Dieser Textausschnitt stammt in grossen Teilen aus dem Buchbeitrag „Das letzte Hemd hat (noch) keine Taschen. Eine design-anthropologische Untersuchung des Patientenhemdes von Bitten Stetter,“ erschienen in der Buchpublikation „Kontext Sterben“ herausgeben von Corina Caduff, Francis Müller, Eva Soom Ammann und veröffentlicht bei Scheiddegger & Spiess , Zürich 2022.
«Ein neuartiges Coronavirus breitet sich in China aus – und springt von Mensch zu Mensch» lautete die Headline der NZZ im Januar 2020. Bebildert war der Artikel mit einer Frau mit Steppmantel und Leopardenschal.
Ihre Hände schützte sie mit Handschuhen, ihre Haare mit einer Basecap, ihr Gesicht verbarg sie mit einer medizinischen Mund-Nasen-Maske. Seit diesen Tagen schwappte die Masken-Welle nach Europa und breitet sich samt Virus pandemisch aus. Laien und Designer*innen agieren und entwarfen Masken in vielfältigen Formaten, ohne dass zu diesem Zeitpunkt der physische Nutzen medizinisch bewiesen war. Grund dafür war die medialisierte Maskenknappheit, doch die modische Aneignung schien individuell wie gesellschaftlich weitere Funktionen zu haben. Die ungreifbare Pandemie wurde Material und der unsichtbare Virus bekam ein modisches Gesicht. Dinge können für Menschen lebensnotwendig sein, denn sie bieten neben physischen, auch psychischen und sozialen Schutz, indem sie uns in wandelnde Lebensumstände begleiten. Sie ermöglichen, Angst zu kompensieren, spenden Sicherheit und helfen uns, unsere Identitäten neu zu justieren. Sie können, wie die Mund-Nasen-Maske explizit zeigt, potenziell Aerosole aufhalten, versprechen, das Risiko der Eigeninfektion zu reduzieren und kommunizieren als «community mask», dass wir uns auch um unsere Mitmenschen sorgen. Mode hat damit vielfältige Eigenschaften, sie schützt, verspricht und spricht zu uns. Namhafte Lifestyle-Brands reagieren, kooperieren mit Virologen, produzieren anti-virale Twinsets aus Maske und Mütze und innovieren den Markt mit futuristischen Corona-Killer-Masks. Heute, ein Jahr später, können wir sagen, dass die Maske wie eine Sporthose zu jeder Kollektion dazugehört, nicht weil sie als medizinische Gesichtsuniform verpflichtend ist, nicht weil sie symbolisch für ein pandemisches Ereignis steht, sondern weil sie als modisches Wahr- und Warnzeichen für Gesundheit, Krankheit und Tod steht. So wird das Gesundheitsaccessoire zum «Must Have», das sich hybridisieren und in ihrer Funktion vom Gesichts- zum Körperkleid weiter ausdehnen und mutieren wird. Und damit sind wir voll im Thema: Mode macht Körper, Körper machen Mode und Mode macht Gesundheitspolitik. Sie materialisiert auf hautsinnliche Weise sozioökonomischen und soziokulturellen Wandel – kurz Trends.
Infektionstrends
Epidemien sind zeitliche und örtliche Häufungen eines Erregers innerhalb menschlicher Populationen, die wir als Infektionskrankheiten fassen können. Die Art und Weise wie sie sich verbreiten ist virologisch aber auch soziologisch von Bedeutung, denn wie sich ein Virus ausbreitet illustriert, wie kleine unscheinbare Nischenphänomene (Microtrends) in der Lage sind, gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Veränderung herbeizuführen. Gesundheitslatschen von Birkenstock, können von Mensch zu Mensch springen und sich epidemisch verbreiten, wenn die Botschaft des Phänomens («Lebe gesund und sei öko») auf einen fruchtbaren Nährboden trifft. Megatrends wie Gesundheit und Nachhaltigkeit sind das Fundament, auf dem verschiedene Modetrends gedeihen und das nicht erst seit Covid-19. Gesundheit, Synonym für ein gutes Leben, hat sich tief in unser Selbstverständnis und Kultur gepflanzt und nährt seit geraumer Zeit sämtliche Bereiche des Lebens. Die Pandemie stört die Wertevorstellungen gesundheitsbewusster Menschen, die sich in einer gesundheitsfördernden Lebenswelten bewegen und die Expansion von Lebenszeit als neues Normal einfordern. Sie wirkt, so ist anzunehmen, wie ein Dünger auf dem Feld der Gesundheit und dieses wird zukünftig wichtiger denn je. Health- und Moodtracker, Sportivity, Detoxing, Mind-Sport, Yoga, Well-being, Spiritual Self, all das ist Ausdruck des Healthy Living Trends, der unter dem Begriff Holisitic Health über die letzten Jahre seine Wirkung entfaltet. Im Zentrum steht der ganzheitliche Anspruch «ausgebrannte» Körper und Seelen, «erschöpfte» Umwelten und «ausgelaugte» Ökonomien möglichst lange am Leben zu halten – sie zu reanimieren und zu rehabilitieren. Unternehmen wie H&M oder Zara reagieren, versuchen sich mit Detox Fashion zu regenerieren, indem sie dem chemikalienverseuchten Körper durch Kleider den Kampf erklären. Organic, Sustainable und Karma Fashion verfolgen vergleichbare Ziele, setzen auf gesündere Rohstoffe, bessere Arbeit und Achtsamkeit. Ein Ausweg scheint aber auch die Gesundheit selbst zu bieten, wie Fitness Fashion und Athleisure zeigen. Diese Mode befruchtet das Gefühl, lebenslang fit sein zu müssen und formt unseren Gesundheitskörper mit. Mode implementiert physiotherapeutische Konzepte, integriert Produkte wie Kinesio-Tapes und versucht mit sportmedizinischer und körperformender Shapewear weiter attraktiv zu bleiben.
Self-Care-Mode
Healing Fashion ist eine alternative Modemutationen, die durch Selbst-Heilungsbotschaften weiter verbreitet. Diese Mode fusioniert nicht mit der Schul- sondern mit der Komplementär- und Alternativmedizin, wie sich an Kollektionen von Victoria Beckhams «Kristall-Alchemie» und «Color Magic» von Viktor & Rolf identifizieren lässt. Sie ebnen den Weg zur Spiritual Fashion und zeigen auf, wie energetische Kleidung zur zweiten Haut wird. Textile Oberflächen integrieren heilende Kristalle und Metalle, durchlaufen Rosenquarz-Filterprozesse und werden mit ayurvedischen Färbemitteln auf den Markt gebracht. Und Designer*Innen wie Marie Lea Lund richten ihre Materialien nach den Chakren, Energielinien und Druckpunkten ihrer Träger*innen aus. Somit wird das Tragen von Mode nun zur ganzheitlichen Medizin, hilft präventiv und kurativ Körper zu optimieren sondern versucht auch emotionale Schmerzen zu lindern. Mode bietet seit jeher Resilienz in Krisensituationen, da sie uns hilft, die veränderte Lebenswelt zu begreifen. Den Unterschied macht das Narrativ, das nicht mehr Glamour, Ökologie oder Retro ins Zentrum setzt, sondern Schul-, Komplementärmedizin und Virologie. Die Mund-Nasen-Maske ist daher nicht nur ikonischer Platzhalter für den Kampf gegen feindliche Viren, sondern gleichsam gegen jegliche Krankheiten und den damit verbundenen Tod. Sie läutet eine neue Ära der Self-Care-Mode ein, die sich zum Ziel setzt, angegriffene und verletzte Identitäten wieder zu reanimieren. Sie wird zur medikalisierten Schutzmontur wie auch therapeutischen Schmusedecke einer Todesangst erschütterten Gesundheitsgesellschaft, die unsere Sterblichkeit aus unserem Gesichtsfeld rücken will. Sie kann damit als ein lebensverlängerndes Accessoire und als starkes Signal für einen gedeihenden Markt von life-prolonging fashion gedeutet werden. Sie reagiert damit auf einen Zeitgeist der Lebensquantität vor -qualität setzt. Komplementär dazu stehen ganzheitliche textile Angebote, die alternative Zugänge zu sich wandelnden Lebens- und Gesundheitsentwürfe bieten.
Umsorgende Entwürfe
finally zirkuliert zwischen Aktivität und Fragilität, nimmt medizinisches und pflegespezifisches Wissen auf, und versucht angegriffene und verletzte Identitäten zu umsorgen. Allerdings steht hier nicht der ungezähmte Wunsch nach Expansion von Lebenszeit im Zentrum. finally verspricht weder Fitness noch Heilung, sondern akzeptiert Endlich- und Zerbrechlichkeit, und bietet textile Lebensbegleiter:innen an, die den Diskurs über Tabu Themen wie Krankheit, Pflegedürftigkeit und abwesende Gesundheit ermöglichen. Es sind gestaltete Brücken, die die Mitte des Lebens mit dem Ende verknüpfen und Verbindungen schaffen zwischen Menschen, die betroffen sind oder betroffene fürsorglich begleiten. Auch der Palliativmediziner Roland Kunz setzt bei seiner Arbeit auf Lebensqualität statt auf Quantität. Seiner Meinung nach ist Lebensverlängerung oft machbar, ob dies die Lebensqualität fördert, stellt er jedoch in Frage (Kunz 2020). Seine Gesellschaftsdiagnose lautet, dass viele Menschen, die Frage nach ihrer eigenen Endlichkeit bis zum Ende verdrängen. Dies ist aus seiner Sicht «verständlich und ermöglicht in gewissem Sinne ein sorgloses Leben. Auf der anderen Seite gehört es zur Lebensreife, dass man auf das bisherige Leben zurückblickt und sich fragt, was man noch vom Leben erwartet und dabei auch das Ende des Lebens in den Blick nimmt» (ebd.).
finally verschliesst nicht die Augen. So können Fragen wie: «Wo stehen wir eigentlich? Was war? Was erwartet uns? Welche Entscheidungen könnten auf uns zukommen?» (Kunz 2020) auch ausserhalb von akuter Betroffenheit und ohne Furcht gestellt werden. Denn um so mehr wir Ängste und Sprachlosigkeit überwinden und um so besser und frühzeitig wir uns über unsere Vorstellungen über unser Lebensende ausgetauscht haben, um so einfacher ist es, so Kunz, Vorstellungen und Wünsche von Patient:innen am Ende ihrer Lebensreise zu realisieren (ebd.).
Literatur:
Kunz, Roland (2020): «Gerontologie heute», Beat Steiger im Interview mit Dr. med. Roland Kunz im Rahmen der Veranstaltung «Lebensqualität in der letzten Lebensphase – Palliative Begleitung, Pflege und Medizin» 18.09.2021.
Footnote: Dieser Textausschnitt stammt in leicht veränderter Form aus dem Buchbeitrag «Mask Have» von Bitten Stetter,“ erschienen in der HKB Zeitung «Wann gibt es die Pille» herausgeben von Christian Pauli, Redaktation Hochschule der Künste Bern, veröffentlicht Bern März 2021.
Weiterführende Literatur:
Heinz Rüegger, Roland Kunz: Über selbstbestimmtes Sterben. Zwischen Freiheit, Verantwortung und Überforderung. Zürich, August 2020. ISBN 978-3-906304-70-0
Dieser Beitrag setzt sich für die Wertschätzung von Oberflächen, für sinnlich-erfahrbares und leibliches Erleben ein. Er wehrt sich gegen eine Haltung, die das Soziale als zweckrationales Normsystem versteht und sinnliche Wahrnehmung auf Informationsverarbeitung reduziert.
Im Jahr 2000 wurde das Phänomen eines neuen nachhaltigen Konsums erstmals in Büchern wie «The Cultural Creative: How 50 Million Are Changing The World» (Ray 2001) beschrieben. Unter dem Akronym LOHAS (Lifestyles of Health and Sustainability) nahmen Soziolog*innen und Zukunftsforscher*innen eine neue Gruppe unter die Lupe, die ihren Lebensstil nach den Prinzipien der Nachhaltigkeit ausrichtete. Diese neuentdeckte Käuferschaft unterschied sich von den alten Ökos der 70er und 80er Jahre weniger durch eine neuartige Gesinnung, als vielmehr durch einen neuen ästhetisierten Lifestyle. «Wir sind die neuen Ökos», heisst es 2007 im LOHAS-Manifest. «Unser Konsum ist konsequent ökologisch und fair, ohne auf Modernität zu verzichten. Im Gegensatz zu den ‹alten Ökos› sind wir technologiefreundlich und genussorientiert. Wir […] genießen nachhaltig. Wir wissen über die Folgen unseres Konsums und versuchen, diese möglichst gering zu halten. Wir interessieren uns für Gesundheit, Spiritualität, Nachhaltigkeit und Ökologie. Gehen zum Yoga oder Tai-Chi, trinken Grüntee oder Bionade. Häufig sind wir Vegetarier» (karmakonsum.de 2007). Diese Wertevorstellung sind grundsätzlich nicht weit von den «Alt-Ökos» entfernt, sie haben sich «nur» den neuen Technologien zugewandt und sich unserem genussorientierten Lebensstil angepasst.
Hören wir 15 Jahre später diese Selbstbeschreibung, kommen wir nicht umhin umgehend an ästhetische Manifestationen dieser LOHAS zu denken. Wir sehen Green-Smoothies, Braunpappe, selbstgestrickt-anmutende Wollpullover und Fotos von einem idyllischen Zusammenleben im Einklang mit der Natur. Begriffe wie Achtsamkeit ästhetisieren sich in Kreidetafeln mit handgeschriebenen Qualitätssiegeln wie «homemade» oder «designed by nature». Wir imaginieren Slogans wie «less is more», die auf den mobilen Litfasssäulen dieser Zeit – den 100%-Bio-Jutebeuteln – Platz fanden und «Ökomode» die sich unverändert fair als Slow oder Green Fashion im neuen Gewand zeigt. Diese Nutzung bestehender und vergangener ästhetischen Kodierungen ermöglichte, dass wir uns auf «alte Werte» leibhaftig «neu» besinnen. Abstrakte Begriffe der Nachhaltigkeit werden durch asketisch wirkenden naturverbundenen Produkt-Auren wieder begehrenswert. Die zeitgemässe Ästhetisierung des Öko-Looks, die Implementierung eines «Sustainable Lifestyles» ermöglicht (nachhaltigkeits-)ungebildeten Konsumbürger*innen sich nach und nach mit Fahrradfahren und Thermoskannen und damit auch mit einer neuen umweltpolitischen und konsumkritischen Haltung zu identifizieren. Boltanski und Chiapello (2003) verstehen die durch ästhetische Praxen hervorgebracht kapitalistische Aneignung, nicht nur als Green-Washing-Instrument, sondern sie trauen dem neuen moralischen Konsum eine Erneuerung des kapitalistischen Geistes hin zu mehr Verantwortung zu (Teigeler 2015). Und das scheint angesichts der wachsenden Zahl von Grün-Wähler*innen und den engagierten Klima-Demos von Jugendlichen eingetreten zu sein. Das Bewusstsein hat sich verändert und eine kleine Gruppe von konsumfreudigen Müslisessern hat es mit Hilfe von Ästhetisierungsprozessen geschafft, eine breitere Masse für umweltpolitische Dringlichkeiten zu sensibilisieren (Zukunftsinstitut 2007), indem eben nicht nur rationale sondern auch sinnlich wahrnehmbare Zugänge geschaffen wurden, die nun auf die rational gesteuerte ökonomische und politische Agenda rutschen.
Daher frage ich konkret: Gibt es in unseren Reihen jemanden, der glaubt, dass wir nur durch nicht-ästhetisierte Informationen, durch pure Sachverhalte und rein kognitive Zugänge heute in dieser Vehemenz über Klimawandel und nachhaltige Lebensführung sprechen würden? Meinen wir wirklich, abstrakte Definitionen wie «Nachhaltigkeit ist ein Handlungsprinzip zur Ressourcen-Nutzung, bei dem eine dauerhafte Bedürfnisbefriedigung durch die Bewahrung der natürlichen Regenerationsfähigkeit der beteiligten Systeme (vor allem von Lebewesen und Ökosystemen) gewährleistet werden soll» (Wikipedia 2019) hätten uns zu reflektierteren Konsumbürger*innen gemacht? Dinge sind samt ihrer ästhetischen Erscheinung Ergänzungen wie auch Alternativen zur sprachlichen Äußerung; wie diese bestimmen sie über Nähe wie auch Distanz. Diese erzeugte Nähe oder Distanz hat nicht nur Auswirkungen auf unsere Sozialität, sondern ermöglicht oder verunmöglicht uns auch neue Zugänge zu grossen gesellschaftspolitischen Fragestellungen.
Daher plädiert dieser Text dafür, auch die Semiotik der Dinge zu betrachten, die bisher keinen Ästhetisierungsprozess erfahren haben, denn durch sie können wir ermitteln, welche Zielvorstellungen und moralisch-ethischen Weltbilder eine leistungsorientierte (post-)kapitalistische Gesellschaft verfolgt. Das Hässliche, das Nicht-Ästhetisch-Erscheinende, ist somit genauso erkenntnisergiebig wie das Schöne. Es gibt Einblicke in kollektive Wertehaltungen. Aber was passiert, wenn das Nicht-Ästhetische oder Entästhetisierte im Verborgenen bleibt, da es nicht geeignet erscheint, «antiästhetisch» produktiv gemacht zu werden? Dann, so meine These, kann das Hässliche verhindern, dass wir uns mit grossen Themen, wie etwa Krankheit, Alter und Sterben, lebensweltlich auseinandersetzen, weil es Identifikation und Nähe verunmöglicht. Dies kann zur Folge haben, dass die Bearbeitung von relevanten gesellschaftlichen Zukunftsfragestellungen ausbleibt oder selbige nur sehr einseitig und einsilbig beantwortet werden können.
Denn wenn wir einen Blick auf Krankheit und Sterben werfen, tritt oben Skizziertes genau ein. Daher frage ich, welche Bilder uns bei Begriffen wie Pflegebedürftigkeit und Lebensende in den Sinn kommen. Schrumpelig betende oder schwache mit Pflaster verklebte Hände, Latexhandschuhe, Holzfurnierimitatpflegebetten, gemusterte Pflegehemden, transparente Gummischläuche und ein Farbmeer aus Chrom, Stahlgrau, Desinfektionsmittelblau, Kittelweiss und OP-Grün mögen vor unserem inneren Auge auftauchen. Objekte wie diese sind samt ihrer Oberflächen und Symboliken einerseits gekoppelt an ein habitualisiertes Körperwissen von Krankheit, Leid und der Sorge von Verlust von Autonomie, anderseits stehen sie aber auch für Anonymität und Standardisierungsprozess der ökonomisierten Medizin, die uns zunehmend zu einem entindividualisierten Körper macht, der in Gesundheitsfabriken effizient bearbeitet wird. Man könnte auch böse sagen, diese Ästhetiken sind in einem perversen Sinne adäquat, weil sie Krankheit und Sterblichsein bzw. «Nicht-Leistungsfähig-Sein» entsprechend hässlich «verkaufen». Betrachtet wir die tristen Bilder, die Pflegebedürftigkeit symbolisieren, so liegt die Vermutung nahe, dass gesellschaftliche Verdrängung und Tabuisierung genau diesen Bilderwelten mitgeschuldet sind. Diese gesellschaftliche wie auch individuelle Sprachlosigkeit untersuche ich. Eine Frage, die mich treibt: Welchen Einfluss hat eine fehlende oder entästhetisierte materielle Kultur auf unser Verhältnis zu Krankheit und Tod? Die andere Frage, die darauf folgt, ist spekulativ: Würden wir die Kraft des Ästhetischen anerkennen und uns diese, ähnlich wie es die LOHAS vor einigen Jahren taten, zu Nutze machen, würde «Sterblich- und Kranksein» wie «Ökosein» möglicherweise wieder salonfähiger werden? Eine kleine internationale Gruppe von «Death Positive-Denker*innen» stösst aktuell diese Prozesse an. Ich selbst gehe davon aus, dass dies nicht ohne ein «Redesign von Sterbewelten» möglich sein wird. Denn, ob wir wollen oder nicht, es ist im hohen Masse die Ästhetik der Dinge, die als «sozialer Klebemittel» fungiert und unsere Welt zusammenhält.
Literatur:
Boltanski, L., Chiapello, E. (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. UVK Verlagsgesellschaft. Konstanz
Das KarmaKonsum LOHAS-Manifest (2007): Wir leben LOHAS – die Lifestyles of Health and Sustainability. Abgerufen am 15. Juli 2014, von https://www.karmakonsum.de/lohas_-_lifestyle-of-health-and-sustainability/
Teigeler, M. (2015): Greemarketing. In: Mair, J., Stetter, B. (Hrsg.): Moralphobia, Ein Zeitgeistglossar von Achtsamkeit bis Zigarette. Hamburg: Gudberg Verlag.
Zukunftsinstitut GmbH (2007): Zielgruppe LOHAS. Kelkheim
Footnote: Dieser Textausschnitt stammt in Teilen und in leicht veränderter Form aus dem Buchbeitrag «Plädoyer für eine ästhetische Zukunft des Designs» von Bitten Stetter,“ erschienen in der Buchpublikation «Not at Your Service: Manifestos for Design» herausgeben von Hansuli Matter, Björn Franke und veröffentlicht Zürich 2020.